06.06.2022
Von Gründung bis Auflösung: Der Oberlahnkreis prägte Weilburg und Umland. Ein historischer Rückblick auf Wirtschaft und Wandel.
Oberlahn-Kreis: Geschichte und Erbe
Der Oberlahnkreis: Chronik einer vergessenen Region
Von stolzen Grafen, dem „roten Gold“ der Lahn und einer folgenreichen Gebietsreform – eine Reise in die über 100-jährige Geschichte des Kreises rund um die Residenzstadt Weilburg.
Mehr als ein Jahrhundert lang war er das administrative und wirtschaftliche Herz einer ganzen Region, doch heute ist sein Name vielen kaum noch ein Begriff: der Oberlahnkreis. Von 1867 bis 1974 prägte dieser Landkreis rund um seine Kreisstadt Weilburg das Leben der Menschen zwischen den Ausläufern von Taunus und Westerwald. Es ist die Geschichte einer Region, die reich an Bodenschätzen, geprägt von adeligen Herrschaften und letztlich ein Opfer moderner Verwaltungsreformen wurde.
Gründung im Schatten des preußischen Adlers
Die Geburtsstunde des Oberlahnkreises schlug am 1. Juli 1867. Sie war eine direkte Folge des Deutschen Krieges von 1866, nach dem das siegreiche Königreich Preußen das Herzogtum Nassau annektierte. Um die neuen Gebiete effizient zu verwalten, ordnete Berlin die alten nassauischen Ämter neu. Aus den Ämtern Weilburg, Hadamar und Runkel wurde der neue Kreis geschaffen und der traditionsreichen Residenzstadt Weilburg die zentrale Rolle als Verwaltungssitz zugewiesen.
Eine erste administrative Anpassung erfolgte bereits am 1. April 1886. Bei dieser Kreisreform wurden die Grenzen neu gezogen und alle Gemeinden des ehemaligen Amtes Hadamar, mit Ausnahme von Niedertiefenbach und Waldernbach, dem neu gegründeten Kreis Limburg zugeschlagen. Diese Struktur sollte für fast ein Jahrhundert Bestand haben und die Identität der Region maßgeblich formen.
Wirtschaftsmotoren: Erz, Marmor und die Eisenbahn
Der Wohlstand und die Entwicklung des Oberlahnkreises waren untrennbar mit den Schätzen seines Bodens und dem Fortschritt der Technik verbunden. Drei Säulen trugen die regionale Wirtschaft:
Das „rote Gold“ der Lahn: Der Eisenerzbergbau
Der Eisenerzbergbau war das pulsierende Herz der Industrie im Lahn-Dill-Gebiet. Seine Wurzeln reichen bis in die Zeit der Kelten zurück, doch seine Blütezeit erlebte er im 19. Jahrhundert. Die unersättliche Nachfrage der Hochöfen im aufstrebenden Ruhrgebiet und die verbesserte Infrastruktur ließen die Fördermengen explodieren. Gruben wie die „Grube Georg-Joseph“ bei Weilburg wurden zu wichtigen Arbeitgebern für Tausende von Menschen. Die Arbeit unter Tage war hart und gefährlich, die Löhne karg. Berichte aus dem späten 19. Jahrhundert schildern 11-Stunden-Tage bei minimalem Lohn, für den ein Arbeiter oft mehrere Monate für einfache Haushaltsgegenstände sparen musste. Die internationale Konkurrenz durch hochwertigere Erze aus Spanien und Schweden sowie der Gründerkrach nach 1873 führten viele kleine, heimische Gruben in die Krise und leiteten eine Konsolidierungswelle ein, bei der große Hüttenwerke an Rhein und Ruhr die Kontrolle übernahmen.
Lahn-Marmor: Ein Stein erobert die Welt
Ein weiteres, weltberühmtes Aushängeschild war der Lahn-Marmor. Geologisch ein rund 380 Millionen Jahre alter Kalkstein aus einem tropischen Devonmeer, zeichnete er sich durch seine besondere Polierfähigkeit und seine vielfältigen Farben aus – von tiefem Schwarz über Rot und Grau bis hin zu gelblichen Tönen. Seit dem 16. Jahrhundert war dieser edle Stein ein begehrtes Material für prunkvolle Altäre, Säulen und Fassaden in ganz Europa. Villmar entwickelte sich zum Zentrum der Marmor-Industrie. Bedeutende Bauwerke wie der Limburger und der Fuldaer Dom, aber auch die Eremitage in St. Petersburg und sogar das Empire State Building in New York wurden mit Material aus der Region ausgestattet. Er zeugt bis heute von der hohen Handwerkskunst und dem geologischen Reichtum der Region.
Die Weiltalbahn: Lebensader der Industrie
Ohne eine moderne Infrastruktur wäre der wirtschaftliche Aufschwung undenkbar gewesen. Die entscheidende Lebensader war die Weiltalbahn. Ihre erste Teilstrecke von Weilburg nach Weilmünster wurde am 1. November 1891 feierlich eröffnet. Ihr Bau war primär eine wirtschaftliche Notwendigkeit, um die schweren Rohstoffe – Erz, Marmor und Holz – effizient aus den Tälern zu den Hauptverkehrsadern und weiter zu den Industriezentren zu transportieren. Die Bahn ersetzte mühsame und langwierige Fuhrwerke. Später diente sie auch dem Personenverkehr und brachte Ausflügler zur „Sommerfrische“ in den Taunus. Doch mit dem Aufstieg des Automobils und dem Niedergang des Bergbaus verlor die Strecke an Bedeutung. Ab 1969 wurde der Personenverkehr schrittweise eingestellt, 1988 endete auch der letzte Güterverkehr. Heute ist die ehemalige Bahntrasse als Weiltalradweg eine beliebte Freizeitroute.
Die Gebietsreform von 1974: Das Ende einer Ära
In den frühen 1970er-Jahren wehte ein neuer politischer Wind durch Hessen. Unter dem Leitbild der Effizienz und Modernisierung sollte die kleinteilige Verwaltungsstruktur des Landes reformiert werden. Ziel der hessischen Gebietsreform war es, größere und leistungsfähigere Landkreise zu schaffen, die den gestiegenen Anforderungen an die öffentliche Daseinsvorsorge besser gerecht werden konnten. Für den Oberlahnkreis bedeutete dies das Aus.
Der Zusammenschluss mit dem Nachbarkreis Limburg wurde von vielen in der Region kritisch gesehen und oft als „Zwangsehe statt Liebesheirat“ empfunden. Man befürchtete den Verlust der eigenen Identität und die Verlagerung des politischen und administrativen Schwerpunkts nach Limburg. Trotz dieser Bedenken wurde die Fusion zum 1. Juli 1974 wirksam. Der Oberlahnkreis hörte auf zu existieren und ging im neuen Landkreis Limburg-Weilburg auf. Für Weilburg war der Verlust des Kreisstadt-Status ein schmerzlicher Einschnitt, der das Selbstverständnis der Stadt nachhaltig veränderte.
Das bleibende Erbe
Auch wenn der Oberlahnkreis von der Landkarte verschwunden ist, sein Erbe ist im östlichen Teil des heutigen Landkreises Limburg-Weilburg allgegenwärtig. Die gemeinsame Geschichte, die industrielle Vergangenheit und eine über Generationen gewachsene Mentalität verbinden die Menschen weiterhin. Das alte Kfz-Kennzeichen „WEL“, das heute wieder für Oldtimer zugeteilt wird, ist ein stolzes Symbol dieser ungebrochenen Verbundenheit. Institutionen wie der Geschichtsverein Weilburg und das Bergbaumuseum der Stadt Weilburg halten die Erinnerung an die industrielle Blütezeit wach. Der Geopark Westerwald-Lahn-Taunus macht das geologische und industrielle Erbe für Touristen erlebbar und schlägt eine Brücke von den urzeitlichen Meeren über den Lahn-Marmor und den Eisenerzbergbau bis in die Gegenwart. Der Oberlahnkreis ist Geschichte, aber seine Spuren sind tief in die Landschaft und die Herzen der Menschen eingeschrieben.